Michael Glas (39) ist Facharzt für Intensivmedizin und seit 2018 Oberarzt auf der Intensivstation am Inselspital Bern.
Michael Glas (39) ist Facharzt für Intensivmedizin und seit 2018 Oberarzt auf der Intensivstation am Inselspital Bern. Credit: Maria Künzli
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«Der Ausnahmezustand ist zur Routine geworden»

Seit anderthalb Jahren behandeln Oberarzt Michael Glas und sein Team auf der Intensivstation im Inselspital Bern schwer kranke Covid-Patienten. Ein Gespräch über Panik, Respekt und die gesunde Mischung aus Nähe und Distanz.

Interview: Maria Künzli

Herr Glas, gehen Sie zurzeit gerne zur Arbeit?
Eigentlich schon. Ich habe meinen Beruf von Anfang an geliebt und tue es auch in dieser schwierigen Zeit.

Man liest zurzeit viel von überlastetem Gesundheits­personal. Wie geht es Ihrem Team auf der Intensivstation?
Vor allem das Pflegepersonal ist durch die Mehrbelastung am Anschlag. Es gibt Burnout-Fälle und im Moment haben wir eine hohe Krankheitsrate auf der Intensivstation. Zudem hatten wir in diesem Jahr eine grosse Kündigungswelle. Die Kündigungen und krankheitsbedingten Ausfälle hinterlassen grosse Lücken, die man nicht einfach füllen kann. Die Intensivmedizin ist sehr spezialisiert und häufig kommen auch bei Covid-Patienten spezielle Geräte wie die künstliche Lunge oder ECMO zum Einsatz, die man zu bedienen wissen muss. Das Pflegepersonal anderer Abteilungen hat dieses Wissen nicht.

Wie werden Sie mit der hohen Arbeitsbelastung fertig?
In diesem Beruf lernt man von Anfang an, mit Druck umzugehen. Auch an Notfallsituationen gewöhnt man sich irgendwann. Aber natürlich gibt es Situationen, an die man sich nie gewöhnt, weil sie so selten sind.

Arbeiten Sie zurzeit nur mit Covid-Patienten?
Nein, wir wechseln uns ab. Die Intensivstation ist dreigeteilt, zusätzlich gibt es noch die Intermediate Care Station, die wir auch betreuen: Ein Teil der Intensivstation ist durch Covid-Patienten belegt, auch um Ansteckungen unter den Patienten zu vermeiden. Die Ärzte rotieren ungefähr im wöchentlichen Turnus zwischen den drei Teilen und zwischen den Schichten.

«Die Kündigungen und krankheits­bedingten Ausfälle hinterlassen grosse Lücken, die man nicht einfach füllen kann.»

Die Pandemie ist unberechenbar. Wie gehen Sie damit um, dass sich die Situation sehr schnell ändern kann?
Wir haben mittlerweile gelernt, damit klarzukommen. Die Pandemie hat uns in den letzten anderthalb Jahren zur Flexibilität gezwungen. Wichtig ist, immer über die aktuelle Lage informiert zu sein. Ich weiss zu jeder Zeit, wie viele Covid-Patientinnen und Patienten gerade auf der Intensivstation sind, wie viele von ihnen beatmet werden müssen und wieviel freie Kapazitäten es noch gibt.

Haben Sie dadurch gelernt abzuschätzen, wie sich die Lage entwickeln wird?
Es ist bis heute nicht möglich, die nächsten Wochen oder Monate abzuschätzen. Die Lage kann sich beruhigen, die Zahlen sinken – und plötzlich steigen sie wieder sprunghaft an. Wir wissen generell immer noch sehr wenig über Covid. Im Gegensatz zu anderen Erkrankungen gibt es kein Lehrbuchwissen über das Virus und seine Auswirkungen, auf das wir zurückgreifen können.

Was brauchen Menschen auf der Intensivstation, abgesehen von der medizinischen Versorgung?
Es ist wichtig, die Patientinnen und Patienten gut über ihr Krankheitsbild zu informieren, sie müssen verstehen, was mit ihnen passiert. Wir sprechen viel und oft mit ihnen, auch wenn sie narkotisiert sind. Das hat einerseits mit Respekt zu tun, andererseits gehen wir davon aus, dass sie dennoch einiges von der Aussenwelt mitbekommen. Ein guter Kontakt und regelmässiger Austausch zwischen Intensivstationspersonal und Angehörigen ist ein Muss, auch wenn die Besuchszeit im Rahmen der Covid-Pandemie deutlich eingeschränkt werden musste.

Wie hat sich Ihre Gefühlslage im Verlauf der Pandemie verändert?
Am Anfang, als es mit der ersten Welle losging, haben wir Notfallpläne und -komitees gebildet und mögliche Szenarien durchgespielt, wie man mit einem möglichen Ansturm von Covid-Patienten umgehen soll. Das war damals noch total surreal. Bei mir persönlich hat sich, als ich realisiert habe, was etwa in Norditalien passiert, schon eine gewisse Panik ausgebreitet.

«Die Kluft, die momentan in der Gesellschaft herrscht, zeugt für mich auch von fehlendem Respekt vor der Arbeit des Spitalpersonals.»

Und jetzt, anderthalb Jahre später?
Der Ausnahmezustand ist zur Routine geworden.

Wie schaffen Sie es da, positiv zu bleiben?
Für mich ist es wichtig, dass ich mich mit jemandem austauschen kann. Ich habe das Glück, dass meine Frau auf der gleichen Intensivstation in der Pflege arbeitet, wir betreuen oft dieselben Patienten. Zuhause sprechen wir viel über die Arbeit und das hilft uns beiden, Dinge zu verarbeiten. Aber natürlich ist es auch wichtig, einfach mal den Kopf durchzulüften und an nichts Medizinisches zu denken.

Wie bleibt man in solch fordernden Zeiten selbst gesund?
Ich versuche eine gesunde Mischung aus Distanz und Nähe zu schaffen. Im Privatleben helfen Spaziergänge mit unserem Hund, Langlaufen im Winter und Velofahren im Sommer, die Natur und ein enger Kontakt zur Familie.

Die Fronten zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften, zwischen Massnahmenbefürwortern und -gegnern werden immer härter, die Stimmung aggressiver. Stehen Sie als Arzt unter Beschuss?
Nein, bis jetzt nicht. Ich wurde noch nie angefeindet oder persönlich angegriffen. Vielleicht liegt es auch daran, dass in meinem Umfeld alle geimpft sind und ich mit niemandem aus meinem Bekanntenkreis Diskussionen über das Impfen führen muss.

Die Kluft, die momentan in der Gesellschaft herrscht, macht mich traurig, und sie zeugt für mich auch von fehlendem Respekt vor der Arbeit des Spitalpersonals. Ich würde den Impfgegnern gerne einmal auf der Intensivstation zeigen, was die Covid-Patienten durchmachen müssen, wie schlecht es ihnen geht. Und sie anschliessend fragen, ob es das wert ist, auf zwei kurze Nadelstiche zu verzichten und damit einen schweren Krankheitsverlauf zu riskieren. Während Patienten in der Regel ein paar Tage auf der Intensivstation verbleiben, handelt es sich bei Covid-Betroffenen um Wochen.

Gibt es Argumente der Impfgegnerinnen und -gegner, die Sie gelten lassen oder zumindest nachvollziehen können?
Nein. Wir haben ja alle das gleiche Ziel: Wir wollen wieder zu einer gewissen Normalität zurück. Der Weg dahin führt über das Impfen und über die Massnahmen, die wir alle nicht mögen, aber die es nun mal braucht. Wenn die Impfquote so tief bleibt, wird uns die Pandemie noch Jahre begleiten. Hinzu kommt, dass die Pandemie, wie wir sie momentan erleben, eine andere ist als jene im letzten Jahr. Es gibt viel häufiger schwere Krankheitsverläufe und die Patientinnen und Patienten, die bei uns zurzeit auf der Intensivstation landen, sind durchschnittlich zwischen 40 und 60 Jahren alt, die allermeisten ungeimpft. Je länger dieses Virus grassieren kann, desto häufiger werden wir mit neuen Mutationen konfrontiert – was wiederum umso gefährlicher auch für die Geimpften ist. Irgendwann wird es eine Variante geben, auf die der Impfwirkstoff nicht mehr anspricht. Deshalb kann ich nur an alle appellieren: Bitte nehmt dieses Virus, insbesondere diese vierte Welle, ernst und lasst euch impfen.

Ein Problem ist auch, dass viele sich widersprechende Informationen und Theorien über die Impfung und das Virus kursieren. Welche Informationsquellen können Sie empfehlen?
Die offiziellen Stellen: die Website des Bundesamtes für Gesundheit, das Robert-Koch-Institut in Deutschland oder die WHO.

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