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Wie Frauen den Langstreckenlauf eroberten

Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Langstreckenrennen eine Männerdomäne, die mit skurrilen Argumenten verteidigt wurde. Erst die 68er-Bewegung und mutige Frauen brachten die Wende.

Andreas Minder

Im Frühling 1967 findet in Boston zum 71. Mal der jährliche Marathon statt. Bei nasskaltem Wetter nimmt auch K. V. Switzer die 42,2 Kilometer unter die Füsse. Was die Organisatoren des Rennens nicht wissen: K. V. steht für Kathrine Virginia, Nr. 261 ist eine Frau.

Nach einigen Kilometern merkt es einer der Renndirektoren, der am Strassenrand steht dann doch. Er hastet ihr hinterher und schreit «Get the hell out of my race!» Er versucht ihr die Startnummer runterzureissen, wird aber von Switzers mitlaufendem Freund, einem Footballspieler, weggecheckt. Sie läuft den Marathon mit einer Zeit von 4 Stunden und 20 Minuten zu Ende.

Langstrecken zu laufen, würde zur Vermännlichung der Frauen führen, sie bekämen dicke Beine, und die Gebär­mutter könnte rausrutschen.

Die Bilder von diesem Vorfall gingen um die Welt (s. Bilder klein) und er stiess Veränderungen an. Unter anderem bei der zwanzigjährigen Studentin Kathrine Switzer selbst. Sie hatte einfach einen Marathon laufen wollen und war keineswegs auf einem Kreuzzug, wie einige Kommentatoren vermuteten. Doch nach der gescheiterten Attacke des Rennleiters wurde der Kampf für das Recht der Frauen zu laufen zu ihrer Mission.

Die Vermännlichung der Frau

Die Argumente, die bemüht wurden, um die Frauen von längeren Strecken fernzuhalten, muten einigermassen bizarr an: Es würde zu ihrer Vermännlichung führen, sie bekämen dicke Beine, Haare auf der Brust und die Gebärmutter könnte rausrutschen. Auch damals glaubte wohl niemand bei Verstand an diese Schauermärchen. Dass es um etwas anderes ging, veranschaulicht das Verhalten des entrüsteten Rennleiters: Dahinter Sorge um die Gesundheit oder Weiblichkeit der Läuferin zu vermuten, fällt auch bei viel Wohlwollen schwer. Vielmehr war es wohl der Versuch, eine männerbündische Tradition zu schützen, die von der Bewegung der Studenten und Studentinnen bedroht schien. Gesellschaftliche Konventionen gerieten ins Wanken, Geschlechterrollen wurden – zumindest teilweise – überdacht.

Oben: Ein Renndirektor versucht 1967 beim Boston-Marathon die Läuferin Kathrine Switzer aus dem Rennen zu ziehen. Unten: Auch Frauen sind 1977 am Murtenlauf zugelassen. Marijke Moser gewinnt in der Frauen-Kategorie.
Oben: Ein Renndirektor versucht 1967 beim Boston-Marathon die Läuferin Kathrine Switzer aus dem Rennen zu ziehen. Unten: Auch Frauen sind 1977 am Murtenlauf zugelassen. Marijke Moser gewinnt in der Frauen-Kategorie. Credit: Keystone

Die längste Strecke, zu der Frauen in jener Zeit an den Olympischen Spielen zugelassen waren, war das 800-Meter-Rennen – und auch das erst seit 1960. Nach dem Switzer-Skandal kam Bewegung in den Laufsport. Am Boston-Marathon wurden Frauen danach geduldet, 1972 offiziell zugelassen. Mehr Zeit liess man sich bei Olympia. Erst 1984 in Los Angeles durften Frauen über die Marathondistanz antreten. Switzer erlebte diese Premiere als Fernsehkommentatorin mit.

Auch Frauen dürfen leiden

In Erinnerung bleiben sollte nicht die Siegerin, sondern der Einlauf der Schweizerin Gabriela Andersen-Schiess. Sie hatte nicht genug getrunken und erreichte das Stadion dehydriert. Die letzte Runde torkelte sie über die Bahn und schaffte es nur mit letzter Kraft über die Ziellinie. Switzer fürchtete schon, diese Bilder könnten die jüngsten Errungenschaften wieder infrage stellen. Dem war aber nicht so. Auch Frauen wurde nun offenbar das Recht zugestanden, öffentlich zu schwitzen und zu leiden.

Markus Aebischer als Pionierin

Die Kathrine Switzer der Schweiz heisst Marijke Moser. Sie war 1972 für die Schweiz an den olympischen Spielen über 1500 Meter angetreten, wo diese Strecke erstmals für Frauen auf dem Programm stand. Ein Jahr später wollte sie am Murtenlauf teilnehmen, der damals gut 16 Kilometer lang war – also Männersache. Wie Moser sagte, wollte sie wie damals Switzer nicht aus politischen Gründen mittun, sondern weil es ihr zu langweilig war, nur zuzuschauen.

Sie meldete sich als Markus Aebischer an und lief bis 100 Meter vor dem Ziel, wo sie von den Veranstaltern aus dem Rennen gezerrt wurde. Diese kritisierten anschliessend ihren damaligen Mann, den Waffen- und Langstreckenläufer Albrecht Moser: Er habe seine Frau nicht im Griff. Diesmal hatten die Herren allerdings die Rechnung ohne die öffentliche Meinung und die Presse gemacht, die sich nun dezidiert auf die Seite der Läuferin stellten. Der Wind hatte gedreht. Es dauerte noch vier Jahre, dann war auch der Murtenlauf nicht mehr den Männern vorbehalten. Als erste Frau lief Marijke Moser ins Ziel ein.

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