Tablets halten Einzug in den Altersheimen.
Tablets halten Einzug in den Altersheimen. Credit: Denise Muchenberger
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Gamen im Altersheim

Das Game «Myosotis Souvenirs» wurde speziell für betagte Menschen in Altersheimen entwickelt. Software-Entwickler Marco Soldati hat das Projekt initiiert und geleitet. Was zeichnet das Game aus?

Denise Muchenberger

Es war seine Kollegin Bettina Wegenast, die im Jahr 2015 mit folgender Idee auf Marco Soldati zukam: ein Game speziell für betagte Menschen zu entwickeln.

«Meine Kollegin hatte nach einem Unfall ihrer Schwiegermutter ein Aha-Erlebnis. Nach dem Spitalaufenthalt musste die über 90-jährige Frau aufgrund einer festgestellten Demenz in ein Pflegeheim. Dort wurde sie zwar liebevoll betreut, aber für die Angehörigen war es nicht befriedigend, immer nur Fotoalben durchzublättern und Brettspiele zu spielen.» Also dachte die Schwiegertochter über neue Beschäftigungsmöglichkeiten nach – und brachte ihr Tablet mit Kinderspielen ins Pflegeheim mit. Das Gamen kam bei der betagten Schwiegermutter gut an und bereitete ihr offenbar Freude. «Doch irgendwann beklagte sie sich über die Art der Spiele und fand, dass sie doch kein Kind mehr sei.»

Möbel im Estrich suchen

Marco Soldati und Bettina Wegenast nahmen dies als Anstoss, um über das Gamen in Altersheimen nachzudenken. Als Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW schrieb Marco Soldati die Entwicklung eines ersten Spieles als Projektarbeit für die Informatikstudierenden aus – und stiess auf grosses Interesse. Nach dem Auswahlverfahren ging das Projekt in die erste Phase. Zweierteams entwickelten erste Prototypen und gingen in Alters- und Pflegeheime, um mit den betagten Menschen zu spielen. «Das war enorm hilfreich, weil wir direkt in der Praxis sahen, was funktioniert und was nicht.» Basierend auf diesen Erkenntnissen, wurden über 30 weitere Spiele entwickelt und getestet.

«Im Idealfall wird das Spiel zur Nebensache – und das Zusammensein steht im Mittelpunkt.»

2018 startete dann ein grosses, interdisziplinäres Forschungsprojekt. Marco Soldati hätte mit seinem Projektteam gerne erforscht, inwiefern sich das Gamen auf die kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten der betagten Menschen auswirkt. Die Ergebnisse hätten allenfalls geholfen, neue finanzielle Hilfen zu generieren und dem Projekt einen weiteren Schub zu verleihen. «Also haben wir zwischen 2018 und 2020 gemeinsam mit Musikern, Grafikerinnen, Psychologen, Informatikerinnen und Pflegefachkräften mehrere Testspiele entwickelt». Just als die Testphase mitsamt Studie starten sollte, kam die Pandemie – und Besuche in Altersheimen waren nicht mehr möglich. «Deshalb beschlossen wir, zwei der Spiele für die Öffentlichkeit aufzubereiten.» Seit Herbst 2021 können «Myosotis Souvenirs» und «Myosotis Buchstabensuppe» kostenfrei im App-Store bezogen werden. Gespielt werden sie idealerweise mit einer Zweitperson auf einem Tablet.

Kaum Ablehnung zu spüren

Beim Spiel «Myosotis Souvenirs», das als erstes auf den Markt kam, geht es darum, zu zweit ein Haus mit vier verschiedenen Zimmern einzurichten. Die Einrichtungsgegenstände befinden sich in einem dunklen Estrich. Mit einer Taschenlampe werden als Erstes die Gegenstände gesucht. «Diese Aufgabe löst man zusammen. Eine Person bedient die Taschenlampe, die andere öffnet Kisten oder verschiebt Dinge», so Marco Soldati. Sind die gewünschten Möbel und Gegenstände gefunden, geht es darum, das Zimmer einzurichten. «Zu Möbeln und Einrichtungsgegenständen haben viele Menschen einen Bezug, auch eine Anekdote oder eine besondere Geschichte, die sie beispielsweise mit einem Sessel verbinden. So können wir die Kommunikation fördern».

Credit: FHNW
Credit: FHNW
Credit: FHNW

Beim Spiel «Myosotis Souvenirs» geht es darum, zu zweit ein Haus einzurichten. Mit einer Taschenlampe müssen die Einrichtungsgegenstände aber erst im dunklen Estrich gesucht werden.

Kreativ sein, Räume nach dem eigenen Geschmack einrichten, Gegenstände im Estrich suchen – das sorgt für Abwechslung und Aufmunterung in Altersheimen. «Es ist vor allem auch für die Angehörigen eine Möglichkeit, mit den betagten Menschen Zeit zu verbringen und vielleicht sogar etwas Neues über die andere Person zu erfahren.» Von vielen Seiten spüre er Dankbarkeit, vor allem auch Offenheit und Interesse, dieses Game auszuprobieren. «Auf Ablehnung treffen wir kaum. Schlussendlich bringt das Spiel Menschen zusammen, fördert den sozialen Austausch und befriedigt damit ein Grundbedürfnis von uns allen. Im Idealfall wird das Spiel zur Nebensache – und das Zusammensein steht im Mittelpunkt.»

Keine Reizüberflutung

Damit «Myosotis Souvenirs» möglichst wenig Erklärung benötigt, hat das Entwicklungsteam in der Pilotphase vieles berücksichtigt, die Zielgruppe stets vor Augen gehabt. «Wir haben mit hohen Kontrasten gearbeitet und die grafischen Elemente klar und einfach gestaltet. Wir wollten zwar Animationen verwenden, aber in einer äusserst dosierten Form, auch Geräusche haben wir subtil eingebaut, damit es zu keiner Reizüberflutung kommt.» Bei der Steuerung musste das Team ebenfalls erst ausprobieren, was funktioniert: «Einen virtuellen Joystick haben wir wieder verworfen, weil die betagten Menschen damit nicht zurechtkamen, ebenso eine Maus.» Nun nutzen die Spielenden ihre Finger und navigieren mittels tippen, ziehen und streichen die Gegenstände von einem Ort zum anderen. Die motorischen Fähigkeiten müssen also gegeben sein, ebenso die visuellen. «Auch hier haben wir die Fehlerquote tief und die Nutzbarkeit hoch gestaltet», sagt Marco Soldati. Es soll ein Spiel sein, das gelingt, Erfolgserlebnisse ermöglicht und positive Gefühle auslöst. «Ganz wichtig ist, dass sich die betagten Menschen aus eigenem Interesse und aus Neugier auf dieses Spiel einlassen. Immer wieder treffen wir auch Bewohnerinnen und Bewohner, die sich desinteressiert abwenden. Dies gilt es zu respektieren.»

Obwohl sich Marco Soldati einen besseren Start erhofft hatte und es bedauert, dass die wissenschaftlichen Arbeiten ins Wasser fielen, habe sich der Aufwand gelohnt. Er sieht das Gamen für betagte Menschen zwar eher als Nische denn als vielversprechenden Zukunftsmarkt, denn die Zielgruppe ist äusserst klein. Trotzdem sind es die ­guten Erlebnisse, die bleiben. «Immer wieder war ich in der Testphase selbst in Heimen und sah, wie positiv die betagten, manchmal teilnahmslosen Menschen auf die Spiele reagierten. «‹Myosotis› ist übrigens der Name fürs Vergiss-mein-nicht – und genau darum geht es uns in unserer Arbeit.»

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