Wie Skulpturen säumen uralte Lärchen im Calancatal den Weg.
Wie Skulpturen säumen uralte Lärchen im Calancatal den Weg.
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Calancatal

Der Pass di Passit auf 2082 Metern Höhe verbindet die Ortschaften Rossa im Calancatal und San Bernardino im Misox. Die Autorin Caroline Doka ist auf den Spuren ihrer Vorfahren über den Pass gewandert.

Text und Bilder Caroline Doka

Pass di Passit 4 ¼ Stunden. So steht es auf dem Wegweiser geschrieben. Noch liegen die gelben Schilder im morgendlichen Schatten. Die Sonne wird ihre Strahlen erst später über die Bergkämme ins Calancatal schicken. Ein letzter Blick zur mächtigen alten Linde am Rand von Rossa. Dann ziehen wir los. Über den Pass di Passit wollen wir nach San Bernardino im benachbarten Misox wandern.

In dieser Geschichte spielen Bäume eine grosse Rolle. Bäume wie die 200-jährige Freiheitslinde in Rossa und uralte Lärchen im Val di Passit. Aber auch andere Bäume. Dass ich von Rossa nach San Bernardino wandern will, daran ist ein Baum schuld: Der wunderschöne alte Familienstammbaum bei mir zu Hause, der mich an meine Wurzeln erinnert. Der Stammvater, Spross einer Patrizierfamilie aus der Republik Venedig, soll im 16. Jahrhundert aus politischen Gründen nach Rossa eingewandert sein.

Eingewandert. Das sagt sich so leicht. Einst war das Calancatal nicht von Süden her zugänglich. Es wurde über die Pässe von Norden her besiedelt. Der einfachste Übergang war mit 2082 m der Pass di Passit. Passit bedeutet kleiner Schritt, leicht begehbarer Pass. Dass meine Vorfahren auf diesem Weg ins Calancatal gelangten, ist wahrscheinlich. Auch die Harzer und Glaser, die saisonal aus dem wilden Bergtal in die Deutschschweiz zogen, um dort ihre Dienste anzubieten, wählten wohl diesen Weg. Längst ist das italienischsprachige, dem Graubünden zugehörige Calancatal vom Tessin her zugänglich.

Hübsche Torbetta im Weiler Valbella. Diese kleinen Holzhäuschen dienten einst als Getreidespeicher.
Hübsche Torbetta im Weiler Valbella. Diese kleinen Holzhäuschen dienten einst als Getreidespeicher.

Auf einem Strässchen wandern wir an der Calancasca talaufwärts. Von der ersten Brücke blicken wir zurück nach Rossa mit der Kirche, in der ein angesehener Vorfahr begraben sein soll. Seine Grabplatte mit Familienwappen konnte ich seltsamerweise nicht finden. In diesem Moment taucht die Morgensonne den Kirchturm in helles Licht, die Häuser liegen noch im Schatten. «Lass gut sein», scheint der Kirchturm zu sagen. Strahlend gibt er uns sein Geleit. Weiter rechts winkt die Freiheitslinde, die 1795 aus Dankbarkeit für die Loslösung des Calancatals vom Misox direkt neben dem Haus, in dem meine Vorfahren lebten, gesetzt worden war. Auch sie leuchtet in der Morgensonne.

Die Füsse im kristallklaren Kleinod kühlen

Der Weg steigt an und wird nach dem hübschen Weiler Valbella zum Forstweg. In der Schlucht sprudelt aufmüpfig die Calancasca. Unerwartet öffnet sich im Wald eine märchenhafte Lichtung, die Alpe d’Alogna. Wir würden uns nicht wundern, wenn hier Elfen tanzten und Kobolde sich im mystischen Wald versteckten, dort, wo der Bergbach wie ein Vorhang aus Wasser über breite Gesteinsstufen in ein zauberhaftes Felsbecken fliesst. Ein tiefblaues, kristallklares Kleinod, wahrlich nicht von dieser Welt. Vielleicht kühlten meine Ahnen aus Venedig darin ihre müden Patrizierfüsse?

Versteckt im Wald nahe der Alpe d’Alogna liegt wie 
ein kristallklares Kleinod ein zauberhafter kleiner See.
Versteckt im Wald nahe der Alpe d’Alogna liegt wie ein kristallklares Kleinod ein zauberhafter kleiner See.

Vom Berg herkommend hatten sie hier die Talsohle erreicht. Für uns beginnt der Aufstieg. Wie einst die Glaser und Harzer lassen wir die Calancasca links liegen und biegen nach Osten ins Val di Passit ab. In einer Schlucht hören wir den wilden Passitbach rauschen. Steil führt der Zickzackpfad den Wald bergauf, mal an einer Felswand entlang, mal unter einem Felsendach hindurch. Ein Schild warnt vor Steinschlag, Ketten sichern eine leicht ausgesetzte Passage. Nicht nur die Glaser, möglicherweise sogar mit zerbrechlicher Ware auf den Traggestellen, durften sich in dieser rauen Wildheit keinen Fehltritt erlauben. Doch wir meistern die Passage problemlos.

Die Steilheit lässt nach, der Wald wird lichter. Jahrhundertealte Lärchen mit enormem Stammumfang säumen wie Skulpturen den Weg. Ob meine Ahnen ein Auge hatten für ihre mystische Schönheit? Vielleicht setzten sie sich in ihren Schatten für eine kurze Rast.

Der Weg schlängelt sich am Hang über Wiesen und Geröllfelder das sich öffnende V-Tal hinauf. Flächen von kerzenartig aufragenden Blüten malen rosa Farbakzente in die grüngraue Landschaft. Entzündungshemmend soll das schmalblättrige Weidenröschen wirken, anregend und vitalisierend – und blitzabweisend, so die Legen­den. Ob die Menschen im Tal sich damals die hohen Blüten als Blitzableiter vorstellten? Unbeteiligt, als interessierten sie solche Geschichten nicht, wiegt sich die zarte Blütenpracht im Wind. Am Himmel kreist ein Milan. Rechtzeitig blicken wir zu Boden, wo eine kleine Viper über den Weg gleitet, scheu, aber giftig. Das Tal ist reich an Tieren. Auch Steinböcken kann man begegnen. Und früher lebten in dieser Abgeschiedenheit Bären. Einer der letzten soll von meinen Vorfahren erlegt worden sein.

Zottige Hochlandrinder suchen auf dem Pass di Passit Kühlung im See.
Zottige Hochlandrinder suchen auf dem Pass di Passit Kühlung im See.

Über den Bach wechseln wir die Talseite. Zum Glück gibt es keine Lawinenreste, wie sie bis weit in den Sommer hinein üblich sind. In den Alpwiesen blüht Eisenhut, eine reizende Alpenblume mit tödlichem Charme. Der kühlen Schönheit wird halluzinogene Wirkung nachgesagt. Im Mittealter sollen Pfeile mit ihrem Gift versehen und Flugfähigkeiten verleihende Hexensalben gemixt worden sein. Letztere könnten wir gut gebrauchen. Wir müssten ja nicht gleich zum Hexensabbat auf den Blocksberg fliegen, der Pass di Passit würde es auch tun.

Zottige Hochlandrinder stehen im See

Dort oben, wo Himmel und Taleinschnitt sich berühren, muss der Pass liegen. Schrittchen für Schrittchen kommen wir ihm näher. Doch was ist denn das? Befallen uns doch noch wahnhafte Träume? Da steht über die Wiese verstreut ein gar seltsames Empfangskomitee: Lauter behäbige Gesellen! Nicht etwa Bären, sondern zottige Hochlandrinder blicken uns gutmütig unter ihren wolligen Fellfransen hervor an. Nach vier Stunden Aufstieg erreichen wir den Pass di Passit, eine von Bergen umgebene, liebliche Hochebene mit zwei zauberhaften Seen. Im Grösseren steht stoisch der Rest der Rinderherde für Kühlung an diesem Hitzetag.

Infos

Länge: 16 km
Pass: 2082 m ü. M. (Rossa 1083 m ü. M., S. Bernardiono 1608 m ü. M.)
Level: T1, T2, kurze Passage T3 (Skala T1-6)
Anfahrt: z. B. Auto bis San Bernardino, im Postauto via Grono nach Rossa.
Übernachten: Albergo Valbella, Rossa Hotel La Cascata, Augio

Verglichen mit dem einsamen Passittal herrscht auf dem Pass Betrieb. Rundwandernde von San Bernardino Dorf, Hochgebirgswandernde auf dem 5-tägigen Sentiero Alpino Calanca und auch wir machen am See Pause. Vielleicht ruhten sich an seinem Ufer vor rund fünfhundert Jahren meine Vorfahren aus, bevor sie am See vorbeiwanderten und zum ersten Mal das Val Calanca erblickten. Oder jene meiner Ahnen, die Generationen später aus dem Calancatal in die Deutschschweiz weiterzogen. Was ich wohl von den Vorfahren aus Venedig und dem Calancatal in mir trage? Vielleicht die Lust, in den Bergen zu wandern und über Pässe zu ziehen? Oder die Freiheitsliebe?

Leichten Schrittes steigen wir durch Alpwiesen und lichte Lärchenwälder die letzten anderthalb Stunden nach San Bernardino ab. Immer wieder erhaschen wir einen Blick auf den Lago d’Isola und das Dorf San Bernardino. In den Kronen der Lärchen weht der Wind. Berichtet er von den Vorfahren, die einst hier vorbeizogen? Das Wispern der Wipfel wird vom Brausen des Verkehrs verschluckt, das von der Passstrasse heraufdringt. Diese alten Geschichten, denke ich, erzählt bestimmt auch das Blut in meinen Adern, wenn ich nur richtig hinhöre.

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